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Mythen-Check Folge 5: „Wer einmal eine Angststörung hatte, wird den Rest seines Lebens damit zu tun haben“

Immer wieder erzählen mir Patienten in unserer Praxis, dass ein Psychiater oder Therapeut zu ihnen gesagt hätte:“ Wer einmal eine Angststörung hatte, der hat den Rest seines Lebens damit zu tun.“ Gerne mit dem Zusatz, man müsse sein Antidepressivum viele Jahre, eventuell sogar lebenslang einnehmen.

Soviel vorweg – beides ist blanker Unsinn!

Antidepressiva mögen bei schweren Depressionen einige Wochen oder maximal Monate hilfreich sein, ihr Einsatz bei Angststörungen ist aber absolut überflüssig, wenn nicht sogar schädlich. Warum das so ist, habe ich ja schon im Mythen-Check Folge 2 ausführlich erläutert. Höchste Zeit also, auch den anderen Mythos ein für alle Mal zu begraben. Denn solche Aussagen verunsichern nicht nur jeden Betroffenen, sie sorgen sogar dafür, dass Ängste tatsächlich noch einmal auftauchen können. Schließlich speichert das Gehirn nach so einer Aussage eine entsprechende Erwartungshaltung ab und kann dann schon beim kleinsten Anzeichen überreagieren.

Angst oder gar Panik haben grundsätzlich nur eine Aufgabe, nämlich die, uns zu schützen.

Egal ob vor einer realen Bedrohung oder vor einem Verhalten, das über kurz oder lang schädlich für uns sein könnte. Das kann z.B. Drogenkonsum sein oder ein Medikament, das wir nicht vertragen. Auch wenn wir zulange in eine schlechte Beziehung oder einem Job verharren, der uns nicht guttut, warnt unsere Psyche uns über diverse psychosomatische Störungen wie z.B. einer Angststörung.

Ich vergleiche diesen „Liebesdienst der Psyche“ gerne mit einem Rauchmelder in einer Wohnung. Wenn es brennt, schlägt er Alarm, damit alle Bewohner sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Nicht das schrille Piepen des Rauchmelders ist das Problem, sondern das Feuer, das um sich greift. Und sobald das gelöscht ist, verstummt auch der Alarm. Angststörungen haben die Aufgabe, uns zu schützen. Sie kommen genau dann, wenn wir sie brauchen. Deshalb macht es wenig Sinn zu behaupten: „Wenn der Rauchmelder einmal angeschlagen hat, wird er das immer wieder tun.“ Tatsächlich wird das nur dann geschehen, wenn es erneut brennt – und genau das erwarte ich auch von einem guten Warnsystem, wie auch unsere Psyche eines ist.

Ich habe schon viele Patienten in meiner Praxis gehabt, deren Ängste von heute auf morgen verschwunden sind, einfach nur, weil sie „ihr Feuer“ gelöscht hatten. Und die allermeisten davon blieben bislang auch vor weiteren Angstattacken verschont – ganz einfach weil sie gelernt hatten, gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Die wenigen, bei denen die Psyche erneut in Form von Angst Alarm geschlagen hat, haben das in aller Regel dadurch verursacht, dass sie alte Fehler wiederholt haben. Sei es, dass sie nochmal schädliche Substanzen konsumiert haben, oder aber sich erneut für einen Job entschieden haben, in dem kein gutes Betriebsklima herrscht und Lob ein Fremdwort ist.

Fazit:

Angst kommt dann – und nur dann –  wenn wir sie brauchen. Die generelle Aussage, sie käme immer wieder, wenn man einmal eine Angststörung hatte, ist nicht nur falsch, sondern sogar hochgradig gefährlich. Auf diese Weise werden falsche Informationen ins Gehirn gepflanzt, die letztlich wie eine selbsterfüllende Prophezeiung wirken können.

Viele Menschen, die in Heilberufen arbeiten, sind sich der Macht ihrer gesprochenen Worte nicht bewusst. Richtig verwendet, können diese den Heilungsprozess extrem beschleunigen. Falsch verwendet, können sie jedoch auch gewaltigen Schaden anrichten. Gerade in diesem Bereich müsste unser Gesundheitssystem deshalb grundlegend reformiert werden, so dass dem richtigen Sprachgebrauch endlich ein genauso hoher Stellenwert eingeräumt wird, wie der Verschreibung des richtigen Medikaments oder der Gerätemedizin.

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