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Mythen-Check Folge 4: Angststörungen im Erwachsenenalter haben ihren Ursprung häufig in einem frühkindlichen Trauma.

Ein Mythos, der sich nicht nur bei Angstpatienten, sondern leider auch bei vielen Therapeuten bis heute besonders hartnäckig hält, ist der, dass Angststörungen im Erwachsenenalter häufig ursächlich auf ein frühkindliches Trauma zurückzuführen wären.

Entsprechend häufig erlebe ich deshalb Patienten, die zum ersten Mal bei mir in der Praxis sind und im Brustton der Überzeugung erzählen, dass sie vor allem deshalb unter Ängsten leiden, weil sie als Kind etwas Dramatisches erlebt hätten. Da wären sie sich ganz sicher, schließlich hätten sie mit ihrem früheren Therapeuten schon ausgiebig an diesem Thema gearbeitet.

Frage ich dann etwas ketzerisch, was sie dann überhaupt noch bei mir wollen, wenn Sie doch bereits genau wüssten, was da in der Kindheit schiefgelaufen sei, dann ernte ich erst einmal ziemlich irritierte Blicke. Ganz offensichtlich hat die Idee, man müsse nur das traumatische Erlebnis aus der Kindheit finden und auflösen, damit die Angststörung überwunden werden kann, so nicht funktioniert. Denn das Wissen darum, was in der Kindheit vermeintlich falsch gelaufen ist, hilft leider nur in den aller seltensten Fällen dabei, sich selbst aus der Spirale der Angst zu befreien. Doch nicht nur das. Das Graben in der Kindheit kann zudem auch noch richtig gefährlich sein – und das in doppelter Hinsicht.

Entweder findet eine Retraumatisierung statt, das bedeutet, dass ein längst überwundenes Trauma erneut aktiviert wird und für Probleme sorgt, die vorher gar nicht da waren. Oder aber wir erinnern uns vermeintlich durch das intensive Nachhaken des Therapeuten an Dinge, die so gar nicht passiert sind. Auch das geschieht häufiger, als man vermuten möchte. Hierzu wurden in den letzten Jahren mehrere Studien gemacht, die eindeutig beweisen, wie trügerisch und manipulierbar das eigene Gedächtnis ist. (Siehe auch folgende Studie: https://www.researchgate.net/publication/235256386_The_Role_of_Mental_Imagery_in_the_Creation_of_False_Childhood_Memories)

Selbst wenn Patienten tatsächlich ein traumatisches Erlebnis hatten, stelle ich immer wieder fest, dass diese oft jahrzehntelang problemlos ihr Leben meistern konnten, bevor die Angststörung das erste Mal auftauchte. Zwar konnten sie sich über all die Jahre sehr wohl daran erinnern, dass die Vergangenheit nicht immer lustig war, dennoch stürzte ein kurzer Gedanke daran sie nicht sofort in ein seelisches Tief. Warum also sollte ausgerechnet jetzt eine alte Erinnerung solche Probleme verursachen und warum war das vorher nicht so?

Unser Unterbewusstsein hat vor allem einen Job, nämlich den, uns zu beschützen.

Deshalb speichert es traumatische Erfahrungen im Gehirn, wenn möglich, so ab, dass diese kaum Schaden anrichten können. Dabei arbeitet es im Prinzip ganz ähnlich wie der Virenscanner eines Computers. Es überprüft alle eingehenden Informationen permanent darauf, ob diese uns nützen oder ob sie schädlich sein könnten. Sobald das Programm einen Virus oder besser gesagt eine traumatische Erinnerung entdeckt, die es nicht löschen kann, packt es diese in Quarantäne. Die Erinnerung an das Trauma wird über Wochen und Monate hinweg neuronal so vernetzt, dass wir uns zwar noch daran erinnern können, es fehlt aber mehr und mehr der direkte emotionale Zugriff darauf, weswegen diese Erinnerung uns nach einer gewissen Zeit nicht mehr allzu sehr belastet.

Wie auch beim Virenscanner eines Computers gibt es jetzt nur einen einzigen Fehler, den es zu vermeiden gilt: Den Virus wieder aus der Quarantäne heraus zu holen, um ihn in allen Details zu betrachten. Nichts anderes machen aber viele Therapeuten, wenn Sie zusammen mit ihrem Klienten stundenlang traumatische Kindheitserinnerungen durchforsten.

Dass die Trauma-Fokussierung vieler Angsttherapeuten eine Sackgasse sein muss, zeigt auch eine Studie, die 2013 im „Journal of Traumatic Stress“ veröffentlicht wurde: (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24151000 ) demnach machen ca. 90 % aller Amerikaner im Laufe ihres Lebens eine schlimme Erfahrung, die genug Potenzial hätte, um daraus ein Trauma zu entwickeln, dennoch geschieht genau dies nur bei ca. 8 % aller Betroffenen.

Die Forschung hat sich jahrelang nur dafür interessiert, warum diese 8 % ein Trauma entwickeln konnten. Dabei wäre doch die viel wichtigere Frage gewesen: Was haben die restlichen 82 % anders gemacht, so dass dieses schreckliche Erlebnis kein Trauma verursachen konnte. Die Antwort darauf ist einfach: Meist wurde hier entweder gar nicht oder nur sehr kurz über diese Erfahrung geredet, und anschließend wurde versucht, so schnell wie möglich wieder seinen alltäglichen Aufgaben nachzugehen.

Denn tatsächlich erzeugt das ausgiebige Bearbeiten traumatischer Erfahrungen häufig nur noch mehr Leid. Je länger das Erlebnis zurückliegt, umso größer ist zudem die Gefahr, dass beim Durchforsten der Vergangenheit sogar falsche Erinnerungen generiert werden, die anschließend zu weiteren Problemen führen. Und das belastet dann nicht nur den Angstpatienten selbst, sondern auch die nächsten Angehörigen. Denen wird dann nämlich nicht selten ein Fehlverhalten angelastet, das so vielleicht gar nicht stattgefunden hat.

Fazit:

Die Behauptung, dass Angststörungen im Erwachsenenalter häufig ihren Ursprung in einem frühkindlichen Trauma haben, stimmt so nicht. Und selbst wenn ein echtes Trauma vorliegt, richtet das häufige darüber Reden oder Grübeln in den meisten Fällen mehr Schaden an, als dass es hilft.

Wählen Sie deshalb grundsätzlich lieber eine zukunftsorientierte Therapie, die Sie im Hier und Jetzt stärkt und neue Ressourcen schafft, anstatt alte Wunden aufzureißen.

Bild: © Fotolia, Family Business, Nr. 111337138

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